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60 Jahre "Rodewischer Thesen"

Der Mai ist ein besonderer Monat für unser Haus. Am 25.5.1963 wurden hier nämlich die psychiatriehistorisch wichtigen „Rodewischer Thesen“ verabschiedet. Haben Sie von den Rodewischer Thesen noch nie gehört? In diesem Fall müssen wir uns auf eine kleine Zeitreise zurück in das Jahr 1955 begeben. 

Unter der Leitung des damaligen Ärztlichen Direktors Dr. Rolf Walther begannen ab diesem Jahr tiefgreifende Veränderungen in der Krankenhausstruktur. Schon 1956 wurde im „Betriebseigenen Plan“ des Fachkrankenhauses Rodewisch festgehalten, „die Einrichtung zu einer modernen psychiatrischen und neurologischen Klinik zu entwickeln, die in der Lage ist, sämtliche international zum Standard gewordenen therapeutischen Maßnahmen anzuwenden.“ Zur Anhebung des Behandlungsniveaus wurden unter anderem folgende Schritte vorgesehen: Aus- und Fortbildung des Personals mittels eines mehrstufigen Programms, Einführung eines Dreischichtsystems, Aufbau einer physiotherapeutischen  und die Profilierung der neurologischen Abteilung. Besonderes Augenmerk lag jedoch auch auf den Punkten „Auflockerung der überbelegten Krankenabteilungen“, „Differenzierung der einzelnen Stationen nach Krankheitssymptomatik und Chronifizierungs- bzw. Schweregrad“, „Verbesserung der ambulanten psychiatrischen Versorgung“ und „Entwicklung der Arbeitstherapie“. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Überbelegung, die 1957 noch 1500 Betten betrug, schrittweise reduziert.

„Die Pionierleistung der Rodewischer Einrichtung […] [wurde] im In- und Ausland mit großem Interesse aufgenommen […] und hat dazu beigetragen, dass seit etwa Anfang der 60er Jahre auch andere psychiatrische Großkrankenhäuser in der DDR mit der Reorganisation begannen. In Würdigung dieser bedeutenden Verdienste um das Gesundheitswesen […] wurde auf Beschluss der Gesundheitsministerien der DDR und befreundeter sozialistischer Länder Rodewisch als Tagungsort für ein Symposium über psychiatrische Rehabilitation bestimmt.“ (Quelle: Dr. Konrad Sänger/Dipl.-Psych. Jürgen Crackau (1975) Von der königlich sächsischen Landesheil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke zu Untergöltzsch zum Bezirksfachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch)

Vom 23. bis 25. Mai 1963 war das Sächsische Krankenhaus – damals noch „Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch“ – Tagungsort für das Internationale Symposium über psychiatrische Rehabilitation, in dessen Verlauf die so genannten „Rodewischer Thesen“ formuliert wurden. Im Mittelpunkt der „Rodewischer Thesen“ steht die Rehabilitation psychisch akut und chronisch Kranker. Der Begriff „Rehabilitation“ bezog sich aus damaliger Sicht im Vergleich zu heute nicht nur auf die berufliche Wiedereingliederung, sondern beinhaltete vielmehr die sozialen Aspekte bei einer Rehabilitation: soziale Teilhabe und vor allem Toleranz gegenüber psychisch Erkrankten bei der Bevölkerung.

Mit diesen Thesen wurden wichtige Impulse für die Psychiatriereformen in Ost und West benannt. Erstmalig wurden hier die zentralen Gedanken der deutschen Psychiatriedebatte formuliert, die auch die Entwicklung der Sozialpsychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland beeinflussten. Über 120 Ärzte und Wissenschaftler aus neun Ländern nahmen teil (UdSSR, DDR und „befreundete sozialistische Länder“, BRD, Frankreich und Kanada), die Vorträge wurden ins Russische, Französische und Deutsche übersetzt.

Folgende Ziele wurden formuliert (Zusammenfassung):

  1. Teil: Rehabilitation

Soziale Wiedereingliederung

In der Behandlung der Kranken muss von Anfang an der Rehabilitationscharakter erkennbar sein. Die soziale Wiedereingliederung wird als ärztliche Aufgabe anerkannt und durch klinisch-medikamentöse Therapie in Verbindung mit sozial wirksamen Heil- und Betreuungsmethoden erreicht.

Nicht mit der Chronifizierung von Krankheiten abfinden

Klinische Heilmaßnahmen bei chronisch Kranken stärker als bisher anwenden und sich nicht mit der Auffassung von Irreparabilität abfinden.

Diese Ziele sollen durch folgende Maßnahmen erreicht werden

  1. Komplexe Therapie: Kombination aus neuroleptischen Psychopharmaka, Arbeitstherapie und gruppenpsychotherapeutischen Verfahren; Psychopharmaka kurzzeitig hoch dosiert und langfristig niedrig dosiert unter ständiger ärztlicher Kontrolle
  2. „Optimale Therapie kommt nur unter optimalen Bedingungen zur Wirkung“: Alle psychiatrischen Krankenhäuser sollten ihre allgemeinen Bedingungen, unter denen sie therapieren, überprüfen. Psychisch Kranke sollen nicht „anders“ als anderweitig Erkrankte im Krankenhaus behandelt werden. Akut und chronisch Kranke werden auf offenen Stationen geführt.
    „Das umfassende Sicherungsprinzip der Heil- und Pflegeanstalt muss einem umfassenden Fürsorgeprinzip des Fachkrankenhauses weichen.“
  3. Stationsweise Trennung von akut und chronisch Kranken
    Differenzierung von Jugend- und Altersstationen
  4. Haushalts- und Stellenpläne müssen an die der allgemeinen Krankenhäuser angepasst werden, um die moderne und komplexe psychiatrische Therapie durchführen zu können.
  5. Entwicklung eines umfassenden Nachsorgeprogramms
    Zusammenarbeit mit Produktionsbetrieben und Ermöglichung von Arbeitsplatzstudien
  6. Übergangslösungen zwischen Arbeitstherapie und voller Erwerbsarbeit schaffen
  7. Toleranz bei der Bevölkerung gegenüber psychischen Erkrankungen erreichen, mit dem Ziel der Prophylaxe, Früherkennung und -behandlung
  8. Amtliche oder gesetzliche Zwangsmaßnahmen gegenüber psychisch Kranken sind auf ein Minimum zu beschränken und Gesetze und Verordnungen dahingehend zu überarbeiten; humane Grundhaltung; psychisch Kranke nicht in Öffentlichkeit diffamieren
  9. Förderung eines intensiven Erfahrungsaustausches im Bereich psychiatrische Rehabilitation auf internationaler Ebene durch die Gesundheitsministerien; Vergabe von Forschungsaufträgen an psychiatrische Facheinrichtungen
  10. Möglichkeiten und Bedingungen einer umfassenden medizinisch-sozialen Rehabilitation für akut und chronisch Kranke im Hochschulunterricht umfassender darstellen; jeder Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sollte vor Übernahme einer selbstständigen Tätigkeit mindestens ein Jahr in einer Hochschulklinik und einem psychiatrischen Krankenhaus im Rahmen der Ausbildung tätig gewesen sein.

2. Teil: Empfehlungen zur Arbeitstherapie

Im Symposium wurde die wichtige Rolle der Arbeitstherapie als Teil der Komplextherapie bei psychischen Erkrankungen betont. Das Hauptaugenmerk liege nicht „auf der Quantität und der Qualität der Produktion, sondern auf dem individuellen Erlebnis, wieder tätig zu sein und etwas zu schaffen […].“

Notwendig sei der frühestmögliche Einsatz der Arbeitstherapie, um auch eine frühestmögliche Entlassung des Patienten zu erreichen – bestenfalls führe die Arbeitstherapie zu einer Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess. Arbeitstherapie soll möglichst von ausgebildeten Arbeitstherapeuten angeleitet werden – hierfür soll der Ausbildungsgang und das Berufsbild des Arbeitstherapeuten festgelegt werden.

Zu den verschiedenen Therapieformen können u.a. auch landwirtschaftliche Tätigkeiten sowie Teilfertigungen für Industriebetriebe gehören – in jedem Fall dürfen diese aber nicht an Produktionsauflagen und Termine gebunden sein. Betriebe, die diese Patientenarbeit in Anspruch nehmen, müssen eine entsprechende Vergütung an die Einrichtung zahlen, von der ein angemessener Teil in die Patientenbetreuung zurückfließt.

Patienten, deren psychischer Gesundheitszustand sich durch die Komplextherapie gebessert hat, die aber nicht in das häusliche Milieu entlassen werden können, sollen in eine beschützende Umgebung entlassen werden, wie z.B. landwirtschaftliche Kollektive oder Wohnheime mit Heilwerkstätten.

  1. Teil: Empfehlungen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie

Dieser Teil wird heutzutage von Experten kritisch bewertet. Im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie sahen die Symposiumsteilnehmer eine völlige Neuorientierung auf dem Gebiet des „Schwachsinns“ als erforderlich an, weil u.a. durch den Rückgang der Säuglingssterblichkeit mehr geschädigte Kinder am Leben blieben und andererseits in den letzten Jahren bedeutende Entdeckungen im Bereich der „Schwachsinnsforschung“ gemacht wurden, die neue prophylaktische und therapeutische Wege aufzeigen. Weiterhin müsse die wissenschaftliche Erforschung von Ursachen, Behandlungs- und Erziehungsmethoden intensiviert werden.

Zwei wesentliche Ziele wurden bei der Kinderpsychiatrie herausgearbeitet:

  • Aufbau eines Früherfassungssystems aller auffällig werdenden Kinder
  • Einrichtung von Beobachtungskliniken mit einem multiprofessionellen Team

Zusammengefasst leitete sich für das Gebiet Kinder- und Jugendpsychiatrie die Forderung ab, dieses Spezialgebiet zu fördern und verstärkt Betten- und Behandlungskapazitäten zu schaffen.

Infolge dieser Empfehlungen wurden in den folgenden Jahren etliche ehemalige TBC-Heilstätten in so genannte „Fachkliniken für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie“ umgewandelt.

Obwohl mit den Rodewischer Thesen die konzeptionelle Basis für eine moderne Psychiatrie gegeben war, kam es nur zum Teil, v.a. regional stark begrenzt, zu durchgreifenden Reformen. Dies lag nach Einschätzung von Experten nicht an den spezifischen Hindernissen der DDR, sondern hauptsächlich an allgemeinen Problemen der deutschen Psychiatrie: Großkrankenhäuser, eine naturwissenschaftlich orientierte Krankheitslehre sowie Nachwirkungen der NS-Zeit in den Köpfen der Menschen bestimmten die Psychiatrie. Hinzu kamen noch die schlechten materiellen und personellen Bedingungen in der DDR. (vgl. Dr. med. Eva A. Richter (2001). Psychiatrie in der DDR: Stecken geblieben – Ansätze vor 38 Jahren. In: Deutsches Ärzteblatt A-307 / B-259 / C-241)

Dennoch führten die Rodewischer Thesen in der Folge zu kleinen Teilerfolgen in der DDR. In vielen psychiatrischen Einrichtungen, nicht nur in Rodewisch, wurden die Gitter von den Fenstern entfernt, Stationen zunehmend offen geführt und Rehabilitationsprogramme auf den Weg gebracht. Beachtenswert sind auch die beruflichen Rehabilitationsmöglichkeiten für psychisch Kranke in der DDR.

26.05.2023

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